Technologieoffenheit, kooperative Industriepolitik und ein Gesellschaftsruck als Gamechanger für die automobile Transformation
In der Rotunde der Stuttgarter L-Bank fanden am 6. November 2025 rund 300 Personen zusammen, um in prominenter Runde über die Bedeutung und Entwicklung der Autoindustrie zu diskutieren. Gastgeber der Veranstaltung waren die Stuttgarter Zeitung, die L-Bank und die Unternehmensberatung „Roland Berger“. Als Podiumsgäste waren eingeladen: Ministerpräsident Winfried Kretschmann, der Mercedes-Chef Ola Källenius, der Global Managing Director von Roland Berger, Marcus Berret, sowie Bosch- und Volvo-Aufsichtsratsmitglied Martina Merz. Moderiert wurde die Runde von Joachim Dorfs, Chefredakteur der Stuttgarter Zeitung.
Neben der allgemeinen Situation der Auto- und Zuliefererindustrie in Baden-Württemberg prägten drei Schwerpunkte die Diskussion:
- die Folgewirkungen eines europaweit beschlossenen Verbrennerverbots ab 2035,
- die weiteren Hemmnisse für eine positive Branchenentwicklung und
- eine kooperative Industriepolitik in Europa als Ausweg aus der Krise.
Erkenntnisse aus der Expertenrunde (key facts)
Zu 1. EU-Verbrennerverbot ab 2035
Bei den Podiumsteilnehmern bestand Konsens dahingehend, dass die Verschiebung des Verbrennerverbots auf EU-Ebene dringend geboten ist. Viel mehr erwartet die Runde ein klares Bekenntnis für Technologieoffenheit zur Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit der produzierenden Unternehmen in Europa. Für Martina Merz ist die Rückbesinnung auf marktbasierte Zielsetzungen im Transformationsprozess entscheidend. Wesentliche Faktoren seien dabei Marktentwicklung, Skalierung, Kosten und Investitionen. Das Ziel, Klimaneutralität in 2050 in Europa zu erreichen, sollte nach Meinung von Ola Källenius hingegen nicht angetastet werden: „Hauptstraße bleibt die Elektromobilität“. Für die Zielerreichung sollten jedoch bis dahin unterschiedliche technologische Wege und Lösungen erlaubt bleiben (z.B. durch Plug In-Technologien). Neben den europäischen OEM stimme laut Källenius auch das europäische Zulieferernetzwerk dieser „Marschrichtung“ grundsätzlich zu.
Hemmnisse für einen Markthochlauf der Elektromobilität sehen die Diskussionsteilnehmer vor allem bei fehlenden Investitionen in die Ladeinfrastrukturen (Verfügbarkeiten, Preisgestaltung). Hier müsse die Politik deutlich mehr Engagement zeigen und entsprechende Förderprogramme reaktivieren bzw. ausbauen.
Zu 2. Hemmnisse für eine positive Branchenentwicklung
Klimaschutz wettbewerbsfähig zu gestalten sei die größte Herausforderung für die Betriebe in ganz Deutschland. Die Konkurrenz aus Übersee und Asien sei, so Ministerpräsident Kretschmann, mit deutlich weniger bürokratischen Hürden belastet. Bürokratieabbau sei eine Grundvoraussetzung für wirtschaftliches Wachstum. Darüber hinaus seien weitere externe Faktoren, wie Handelsbeschränkungen, Zölle etc., verantwortlich für die stagnierende Entwicklung der Wirtschaft.
Martina Merz sieht die mangelnde Geschwindigkeit, die geringe Skalierung und die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen als größte Hemmnisse derzeit. Die EU und Deutschland „muss mehrere Dinge gleichzeitig bewältigen“. Unter anderem müsse der Wissenstransfer von der Wissenschaft in die Unternehmen beschleunigt werden, um Innovationen zu generieren. Es müsse schneller möglich werden zu gründen und es seien mehr Anstrengungen seitens der Politik notwendig, um Zukunftstechnologien zu fördern (v.a. im Energiebereich).
Für Ola Källenius stellt das größte Hemmnis derzeit die Personalkostenentwicklung in den deutschen Unternehmen dar. In Ungarn sei die Kostenstruktur deutlich niedriger, so dass sich wirtschaftlicher produzieren ließe. In Summe seien in Ungarn produzierte Autos um 50 Prozent billiger als in Deutschland. Aus diesem Grund seien neue Wege in Deutschland notwendig, um Kosten zielgerichtet zu senken und die Produktion wirtschaftlicher zu gestalten.
Einig sind sich die Podiumsteilnehmer darin, dass ein „Ruck“ die Gesellschaft gehen müsse. Eine „Mind Set-Änderung“ bei Beschäftigten, Unternehmen und der Politik sei dringen notwendig, um wieder wettbewerbsfähig sein zu können. Das beinhalte höhere Jahresarbeitsstunden, weniger Krankentage und eine Bereitschaft der Beschäftigten und Unternehmen für Veränderung und Weiterbildung, so die Runde.
Zu 3. Kooperative Industriepolitik in Europa
Für den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit der Region sei eine neue europäische Industriepolitik notwendig. Allein mit marktwirtschaftlichen Instrumenten sei eine automobile Transformation nicht zu erreichen. Es müsse eine gemeinsame Antwort von Politik und Unternehmen gefunden werden, um mehr Wettbewerb und Innovation hervorzurufen. Neue europäische Strategie- und Innovationsprojekte („Airbus 2.0“) seien notwendig, so Ministerpräsident Kretschmann, um wieder global „mithalten zu können“. Beispiele für gemeinsame Projekte sind u.a. der Rohstoffbezug von Seltenen Erden, das Batterierecycling, die Batterie- und Chipproduktion sowie eigens entwickelte Software-Produkte für das „Auto von morgen“.
Fazit der Podiumsdiskussion:
Nach einer Dekade wirtschaftlichen Wachstums in der deutschen Automobilindustrie bedürfe, so Ola Källenius, der automobile Transformationsprozess „noch Jahrzehnte“. Es sei kein Sprint, diesen zu absolvieren, sondern die aktuelle Transformation stelle eine „harte, volatile Phase der Veränderung“ dar. Der Mercedes-Chef fordert in diesem Zusammenhang von allen Beteiligten „mehr Geist von Carl Benz und Gottlieb Daimler“ für die Weiterentwicklung und Innovation der Automobilindustrie am Standort Deutschland.